Wie schmeckt die Farbe Rot?
Besondere Museumsführungen im Europäischen Museum für Modernes Glas
Ganz vorsichtig verteilt Meike Leyde Erdbeeren an die kleine Gruppe Menschen. Einer hat einen Gehstock, andere haben einen Rollator, eine Frau sitzt im Rollstuhl. Die Gruppe betrachtet dabei gemeinsam die rote „Barke“ des italienischen Glaskünstlers Lino Tagliapietra. Vielleicht schmeckt die Farbe Rot so: nach Erdbeeren. Kunstwerken kann man sich auf vielen Wegen nähern; nicht immer ist Vorwissen und verbale Ausdrucksfähigkeit nötig. Es genügen oft auch einfach die Sinne.
Ein Kulturangebot speziell für Senioren und Seniorinnen mit Unterstützungsbedarf oder Menschen mit Demenz entsteht derzeit im Europäischen Museum für Modernes Glas in Rödental. Im Herbst sollen die ersten besonderen Museumsführungen offiziell starten. Sie zeichnen sich aus durch eine kleine und sorgfältige Auswahl an Kunstwerken, die in kleinem Kreis gemeinsam kennengelernt und besprochen werden. Dabei immer vorhanden: Sitzmöglichkeiten. Menschen mit und ohne Einschränkungen sind herzlich eingeladen, zusammen mit Angehörigen oder betreuenden Personen das neue Angebot kennenzulernen. Verbindendes Element der ausgewählten Objekte ist deren Farbe. „Ob Rot wie die Liebe, Ganz in Weiß oder Eine Fahrt ins Blaue – wer sich unter dem Aspekt der Farbe den Kunstwerken nähert, entdeckt ganz leicht viele Bezüge zum eigenen Leben und Er-Leben“, erläutert Cornelia Stegner, die in den Kunstsammlungen der Veste Coburg und dem Europäischen Museum für Moderne Kunst für den Bereich Bildung und Kommunikation zuständig ist. Gemeinsam mit den freiberuflich arbeitenden Gästeführerinnen Dr. Meike Leyde, die die Konzeption und Umsetzung der neuen Angebote federführend ausgearbeitet hat, und Christine Heister hat sie an der Schulung „Kultur, Vielfalt & Älterwerden – Starterkurs für Kulturanbietende aus Oberfranken“ des Curatoriums „Altern gestalten“ und der Fachstelle für Demenz und Pflege Oberfranken teilgenommen. Diese stellt die Bedürfnisse von Menschen mit Einschränkungen sowie den Aufbau entsprechender kultureller Angebote in den Mittelpunkt. „Wir freuen uns, wenn wir nun im barrierefrei zugänglichen Europäischen Museum für Modernes Glas Menschen mit Einschränkungen und deren Begleitpersonen attraktive und maßgeschneiderte kulturelle Vermittlungsangebote bieten können“, betont auch der Direktor der Coburger Kunstsammlungen, Dr. Sven Hauschke.
Interview mit Dr. Meike Leyde
- Für die Beschäftigung mit dem Thema Demenz gibt es für Sie einen ganz persönlichen Grund. Würden Sie uns davon erzählen?
Mit dem Thema bin ich erstmals konfrontiert worden, als mein mittlerweile verstorbener Vater am Ende seines Lebens an Demenz erkrankte. Neulich beim Abendbrot mit meiner Familie haben wir an ihn gedacht. Ich musste niesen und suchte ein Taschentuch und erzählte, dass mein Vater früher immer ein Taschentuch für mich in seiner Hosentasche hatte. Daraufhin sagte mein Sohn: „Und zum Schluss steckte Opa Essiggurken in die Tempotaschentücher in seiner Tasche. Aber erst nahm er den Serviettenring heraus, den Oma schon so lange vermisst hatte.“ Wir konnten herzhaft lachen über die Situation. Damals waren wir berührt, und manchmal fast verzweifelt.
Menschen mit Demenz scheinen in unsere schnelllebige und leistungsorientierte Gesellschaft nicht zu passen. Pflegekräfte in Heimen und Tagespflegeeinrichtungen leisten Großes für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Es ist mir ein Herzensanliegen, ein klein wenig dazu beizutragen, um unseren Mitmenschen mit Demenz und ihren Angehörigen kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe so lange und so gut es geht zu ermöglichen. Der Starterkurs „Kultur, Vielfalt & Älterwerden“ war dazu eine sehr gute Grundlage.
- Worin liegen die Unterschiede von demenzfreundlichen Angeboten zu einer ganz „normalen“ Museumsführung?
Demenzfreundliche Angebote sind wie andere Museumsführungen auch auf eine bestimmte Zielgruppe hin ausgerichtet. Jedoch geht es nicht darum, Wissen zu vermitteln, damit die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Ende der Führung „gebildeter“ sind als vorher. Bei demenzfreundlichen Angeboten ist der Weg das Ziel. Das Museum bietet einen geschützten Raum, in dem wir gemeinsam und mit Freude Kunstwerke mit allen Sinnen betrachten und beziehen sie auf das eigene Leben. Das ist eine ganz andere Herangehensweise an Kunst, sie ist sinnesorientiert und erfahrungsgeleitet – und unglaublich bereichernd. Ganz wichtig bei demenzfreundlichen Angeboten sind Barrierefreiheit und ein enger Austausch mit den Begleitpersonen vorher und nachher.
- Welches Potenzial sehen Sie in solchen Angeboten?
Unsere Gesellschaft wird älter und immer mehr Menschen erkranken an Demenz. Das Potential liegt darin, Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen weiter teilhaben zu lassen am kulturellen und gesellschaftlichen Leben, um Vereinsamung entgegenzuwirken. Das Museum kann dabei ein Stück Normalität bieten. Großes Potential sehe ich in der Entschleunigung und Verlangsamung: Unseren Mitmenschen mit Demenz Zeit zu widmen, sie zu nehmen, wie sie sind, bietet uns allen die Möglichkeit, einander wertschätzend zu begegnen. Nicht zuletzt eröffnen die Angebote allen Beteiligten neue Zugänge und spannende Sichtweisen auf die Kunst.
- Es gab bereits Probeführungen, zum Beispiel für Gruppen aus einer Tagespflege-Einrichtung. Wie ist es gelaufen?
Unser Pilotprogramm „Rot wie die Liebe“ hat unglaublich viel Spaß gemacht. Nach dem Kurs und der Ausarbeitung eines Konzepts fühlte ich mich gut vorbereitet. Einen roten Faden zu haben, gehörte bislang für mich zu jeder Museumsführung mit dazu. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass dieser rote Faden zwar hilfreich war, aber bei der Durchführung eigentlich keine Rolle spielte. Vieles ist nicht vorhersehbar oder planbar. Plötzlich war es viel wichtiger, von diesem roten Faden abweichen zu können.
Wir haben drei rote Kunstwerke gemeinsam betrachtet. Die rote Barke gab Anlass, sich zu erinnern, an frühere Italienreisen, an Schiffsreisen und den Surfsport. Es wurde viel erzählt. Ein besonderer Moment für mich war, als ich jedem einen runden Glasnugget in die Hand legte. Glas ist ein faszinierendes Material, mal transparent, mal spiegelnd, mal opak. Die Nuggets wurden bestaunt, gegen das Licht gehalten, in der Hand bewegt und in die Tasche gesteckt. Es gab auch Menschen, zu denen ich keinen Kontakt aufbauen konnte. Auszuhalten, dass keine Antworten oder Reaktionen kommen, gehört dazu. Sehr gefreut habe ich mich, als ich im Nachhinein erfuhr, dass einer der Teilnehmenden, mit dem ich nicht auf gewohntem Weg kommunizieren konnte, seinen Glasnugget seiner Frau als Glücksbringer geschenkt hatte.
Berührt hat mich auch, als mich eine Dame darum bat, die Fußstützen von ihrem Rollstuhl hochzuklappen: Sie wollte aufstehen, um meiner übers Handy abgespielten Musik vor dem Kunstwerk zu tanzen.
- Was würden Sie Angehörigen sagen, die Zweifel hegen, ob ein Museumsbesuch gemeinsam mit einem demenzkranken Partner, einer Partnerin oder einem Elternteil in Frage kommt?
Ich kann durch meine persönliche Erfahrung gut nachvollziehen, dass vor einem Museumsbesuch mit einem demenzkranken Angehörigen Zweifel und vielleicht auch Ängste entstehen können.
Leider sind wir als Gesellschaft noch zu wenig auf unsere Mitmenschen mit Demenz eingestellt. Ein vorheriger Anruf kann Bedenken eventuell aus der Welt schaffen und zum Museumsbesuch ermuntern. Museen bieten, mehr als andere öffentliche Orte, einen geschützten, barrierearmen und ruhigen Raum zum Wohlfühlen. Die demenzfreundlichen Angebote im Europäischen Museum für Modernes Glas wollen ein Stück Normalität und Teilhabe ermöglichen. Ich freue mich auf die kommenden Gelegenheiten, um unseren Mitmenschen mit Demenz und ihren Angehörigen Freude und eine gute Zeit zu bereiten.